Herrje, diese Demokratie ist schon nicht so einfach. Selten habe ich so wenig gewusst, was ich denn wählen sollte… Bremen übt ja schon seit 12 Jahren das, was bundesweit gerade so geräuschlos und harmonisch unser Land wie großer Phönix aus der Koalitionsasche… ach vergessen wir das.
Hab den Wahl-O-Mat konsultiert, der mir die FDP nahebringen wollte. Kann ja nicht schaden, wäre eine Wahl ohne Wirkung… Der Spitzenkandidat Markus Buhlert hat sie ja auch nicht - ist halt nur ein netter Naturwissenschaftler mit echtem Doktortitel in einer kleinen Splitterpartei.
Oder vielleicht doch die CDU? Die sind ja für Wirtschaft und die muss laufen. So wie der Thomas Röwekamp. Der läuft für Kinder und Marathon. Aber dann laden sie den Schäuble ein. So läuft nix. Mit der CDU und mir. Und der Latte Macchiato im Café Röwekämp, das leider so ungünstig in der Innenstadt liegt, dass ich mehrfach vorbeilief und zu einem Kaffee eingeladen wurde, war auch nur ein Café Latte.
Die SPD soll auch ganz nett sein. Der Jens Böhrnsen ist ja auch nett. Nett und gesichtslos lächelt er von verblichenen Wahlplakaten. Da hat die SPD im April mit Schietwetter gerechnet und dann scheint die ganze Zeit die Sonne und sabotiert ihre Plakate. Pessimisten wählen? Und Scherf ist er auch nicht. Der Henning Scherf war doch in der SPD, oder? Kann man ja mal leicht vergessen, so nett wie das hier in Bremen immer war. Neee, oder? Der war gar nicht SPD, der war ja der Scherf. Jetzt weiß in Bremen gar niemand mehr, was die SPD eigentlich ist.
Die Grünen, ja die sind doch auch gut. Die Karoline Linnert - als ich sie zum ersten Mal vor Jahren bewusst wahrgenommen habe, musste ich spontan an Loriots Knollennasenmännchen denken. Der Loriot war ja früher oft in Bremen. Nicht dass… Dann hat die Frau Linnert im ZDF-Interview noch je einmal „verknusen“ und „wuppen“ gesagt und gar mehrfach gelächelt. Und dann dürfen die Grünen doch wieder nicht mitspielen, weil die SPD doch mit der CDU kuscheln will…
Achja, die Linke und die Rechte. Wer vor lauter Schiss seine Wahlplakate so hoch an die Laternen hängt, dass man sie nicht abreißen kann…
Das seltsam versteckte Wahllokal kannte ich dann ja schon vom letzten Mal und habe es ausnahmsweise auf Anhieb gefunden. Unentschieden, wo das Kreuzchen denn jetzt zu machen sei auf jeglichen subtilen Hinweis geachtet. Auf dem Weg dorthin gleich nacheinander die Straßen Auf dem Rövekamp und Grünenweg gekreuzt. Kurz vor dem Wahllokal kurzhaarigen Jungen mit schlecht blondiertem Mädchen in Londsdale-Pullis passiert. Nein, ich habe keine Vorurteile aber wenige Zentimeter vor der Tür plötzliche eine vage Tendenz.
Seltsamerweise im Wahlllokal wie bei der letzten Wahl meine Nachbarin getroffen, die mich wie beim letzten Mal erst nicht erkennen wollte. Kreuzchen gemacht. Noch ein Kreuzchen gemacht. Eingeworfen und gewundert, dass ich keinen Perso vorzeigen musste. Ist das hier doch ein Kuhkaff, wie die Zeit so schön schrieb?
Beim Raustorkeln aus der Wahlkabine (übrigens kein Stuhl zum Hinsetzen und viel zu niedriger Tisch - Skandal!) aus hübschen dunklen Augen angeguckt und mit hinreißendem Dialekt ganz knapp vor Schwyzerdütsch zu einer weiteren Wahl aufgefordert worden. Hilfe, ich bin repräsentativ! Für die ARD jedenfalls. Zettelchen in die ARD-Urne („die größere“) eingeworfen, nachdem mir die dunklen Augen verboten hatten, es in die ZDF-Urne („die kleinere“) zu werfen. Putzig.
Auf dem Rückweg noch lecker Croissants und Franzbrötchen in Bremens kleinster Backstube am Kennedy-Platz geholt. Espresso gemacht, gebloggt, TV angeschaltet und auf die Hochrechnung gewartet…
Demokratie kann manchmal so schmackhaft sein.
Diskussion
Perso vorzeigen ist nur nötig, wenn der Wahlvorstand das verlangt. In der Regel reicht die Wahlbenachrichtigungskarte.
Ah, es lohnt sich also doch, sich auch am Sonntag zu rasieren